Grabstein Baur

Auf der Südseite der Friedhofkapelle, gleich wenn man zur schmiedeeisernen Türe hereinkommt, steht ein Grabstein, altersgrau und stellenweise von wucherndem Efeu verdeckt. Täglich gehen viele Friedhofsbesucher vorbei und beachten ihn wohl kaum. Dabei ist er von der Form und von der Gestaltung her in unserem Friedhof einmalig: ein quadratischer Sockel, in halber Höhe ein in den Sandstein gemeißelter Text, darüber ein fast meterhoher Sandsteinkelch, ebenfalls mit Inschrift, und als Abschluss ein Totenkopf. Der ganze Stein ist etwa 2 Meter hoch. Die Inschriften sind schwer zu entziffern, kein Wunder bei dem Alter des Grabmals: um die 180 Jahre steht es schon auf dem Friedhof. Andererseits ist es fast verwunderlich, dass sich eine ständig der Witterung ausgesetzte Schrift überhaupt so lang erhalten hat. Die Auswirkungen unserer seit Jahrzehnten immer aggressiver werdenden Luft haben aber schon deutliche Spuren hinterlassen, und man wird an Eduard Mörikes „Turmhahn“-Gedicht erinnert, dessen letzte Zeile mahnt: „Wirst nicht noch einmal hundert Jahr“. Die beiden Inschriften geben Auskunft darüber, wem einst dieses Denkmal gesetzt wurde. Der Text auf dem unteren Teil lautet: Denkmal ehelicher und kindlicher Liebe dem Treuesten Gatten und Besten Vater M. Georg Valentin Baur 47 Jährigen unermüdet tätigen Oberpfarrer bei der Gemeinde alhier welcher im 74. Jahr seines Lebens seinen Lauf vollendet Gestiftet von seiner hinterlassenen Gattin und 6 Kindern vollendeter … lich in unserm Herrn lebst … einst wieder sehen (?) Die weiteren zwei Zeilen sind nur bruchstückhaft zu erkennen. Der obere Text ist wohl seiner Frau gewidmet: Auch das liebevolle dankbare Andenken unserer geliebten zweiten Mutter, Frau Regina Barbara gebohrnen Baur Vereinigen wir unseres vorangegangenen lieben Vaters entschlummerte den 14ten Jan 181. (?) ganz vollendeten 82 ten Jahr Wer war nun dieser Magister Georg Valentin Baur? Die Lebensdaten besagen zunächst nicht sehr viel: Geboren 1729, Pfarrer in Schwaigern von 1756 bis zu seinem Tod 1803. Auffallend ist natürlich, dass er 47 Jahre lang an derselben Gemeinde Pfarrer war und dieses Amt bis zu seinem Tod mit 74 Jahren ausübte. Das für uns Interessanteste an der Person Baur ist aber die Art und Weise, wie dieser nach Schwaigern kam. Seine Berufung in das Schwaigerner Pfarramt war so neu und auch einmalig, dass sich damit eine Abhandlung in den „Blättern für Württembergische Kirchengeschichte“ befasste, die 1903 von Pfarrer Waldbaur unter dem Titel: „Eine Pfarrwahl zu Schwaigern im Jahr 1755“ verfasst wurde. Die folgenden Ausführungen gründen sich ausschließlich auf diese Veröffentlichung. Normalerweise wurde der Pfarrer von Schwaigern, der damals die Amtsbezeichnung „Oberpfarrer“ trug, vom Patronatsherrn, dem Grafen von Neipperg, ernannt. Graf Wilhelm Reinhard von Neipperg war zwar 1717 zur katholischen Kirche übergetreten, hatte aber nach wie vor das Besetzungsrecht für die evangelische Pfarrstelle. Durch ein Dekret vom Juni 1755, unmittelbar nach dem Tod von Oberpfarrer Stecherwald, verzichtete aber Wilhelm Reinhard auf dieses Recht und überließ die Wahl des Nachfolgers „dero Unterthanen und zwar Schultheißen, Anwaldt, Bürgermeister des Gerichts, 8 Zehner und 12 derer ersten und nach dem Gericht folgenden Männern…“ Von diesem Wahlgremium erging nun ein Brief an „HE. Magister Bauren nacher Böblingen von Schultheiß Anwald, Richter, Viertelsmeister und Gemeindedeputierten de dato Schwaigern 18. August 1755“. Baur war wenige Jahre zuvor als Vikar in Schwaigern gewesen und hatte da einen sehr guten Eindruck hinterlassen, so dass er mit großem Nachdruck gebeten wurde, die Stelle anzunehmen. Die Schwaigerner Wahlmänner konnten eigentlich sicher sein, dass Baur dieses Angebot annehmen würde, auch deshalb, weil es für ihn als damals 26jährigen eine besondere Ehre und ein hoher Vertrauensbeweis sein musste, die Stelle eines Oberpfarrers übertragen zu bekommen. Doch von Baur kam eine Absage. Er hatte sich die Sache wohl überlegt und führte Gründe auf, die ihm aus seiner Sicht für eine Ablehnung gewichtig genug erschienen: Er wusste, dass mehrere andere Pfarrer auf diese Stelle ein Auge hatten. Da war Pfarrer Bertsch aus Klingenberg, doppelt so alt wie Baur und mit Verwandtschaft in Schwaigern. Sowohl seine erste wie auch die zweite Frau stammten aus Schwaigern, und seine Schwester war mit dem Schwaigerner Schulmeister verheiratet, sein Vater war jahrzehntelang als Präzeptor hier tätig, sein Bruder war der Lammwirt. Da war als weiterer Interessent der „Helfer“, also der zweite Pfarrer Kirchweger hier, der im Sommer 1755 die 15jährige Tochter des Schwaigerner Schultheißen Behringer geehelicht hatte. Baur mochte also die „Verwandtenpartei“ fürchten, die im Falle seiner Berufung gegen ihn sein könnte. Er war sich seines noch jugendlichen Alters bewusst und hatte Bedenken, er könne dadurch, dass er Älteren vorgezogen wurde, „in Verdruß und Feindschaft gerathen und … so könnte dadurch deren Gemeinde Ärgerniß gegeben werden“. Außerdem war er als Seminarist dem württembergischen Kirchendienst verpflichtet (Schwaigern war ja neippergisch!). Die Schwaigerner geben aber nicht auf. Ein Brief mit nochmaliger Bitte um Zusage wird verfasst; da aber tritt die Gegenpartei auf den Plan. Sie scheint die Gültigkeit des Beschlusses angefochten zu haben und es kommt zu einer erneuten Verhandlung. Dabei werden zwölf Mitglieder des Wahlgremiums von der Gemeinde gewählt, nicht von den „Achtzehnern“ (etwa dem Gemeinderat vergleichbar) bestimmt. In der Liste der Wahlmänner erscheinen viele Namen von alteingesessenen und heute noch existierenden Schwaigerner Familien: Söhner, Karr, Reinwald, Eberle, Zimmermann, Volz, Behringer, Gräsle, Boger, Abendschön; aber auch Namen von Bürgern, die erst vor wenigen Jahrzehnten zugewandert waren, wie Amos, Graßauer, Bader, Freudenthaler. Jeder der Wahlmänner muss nun seine Stellungnahme zur Pfarrerwahl abgeben. Eine überwältigende Mehrheit spricht sich wieder für Baur aus, wenige für Kirchweger, niemand für Bertsch. Trotzdem geben die unterlegenen Kandidaten nicht auf. Es handelt sich um insgesamt vier Neippergische Pfarrer, als auch noch die aus Adelshofen und Neipperg. Sie agitieren kräftig, und besonders Kirchweger scheint sich dabei hervorgetan zu haben in einer für einen „Pastori sehr unanständigen Leitung“. Dieser Streit ging so weit, dass sich die Gemeindevorsteher und Gerichtsdeputierten an den Grafen wandten mit der Bitte, die Pfarrer zur Mäßigung und zur Duldung der Entscheidung anzuhalten. Auch Bertsch gab sich noch nicht zufrieden. Er wollte wenigstens erreichen, dass er und nicht Baur das Inspektorat über die Neippergischen Pfarrer bekäme, und er suchte die Unterstützung seiner drei Kollegen. Doch da machte Kirchweger nicht mehr mit. Er wollte sich mit dem, was der Herr Generalfeldmarschall von Neipperg „verfüget,… allerdings begnügen und keineswegs sich dagegen aufzulaßen gesonnen seye“. Die Unterredung zwischen Kirchweger und Bertsch verlief dann so, da Kirchweger auf seiner Meinung beharrte, „ist hierdurch der Pfarrer von Klingenberg so aufgebracht worden, daß Er die Stuben Thür hinter sich zugeschlagen…“ Aber auch seine weiteren Bemühungen waren umsonst. Am 4. Januar 1756 endlich wurde Anwalt Friedrich Amos mit der „Herschaftl. eingeloffenen Vocation“ an Baur abgeschickt. Im Mai erfolgte der Einzug Baurs; sein Umzugsgut wurde mit mehreren Wagen von Böblingen abgeholt, das Gericht und mehrere Bürger gingen ihm bis Meimsheim entgegen, in Neipperg wurde noch „ein Glas Wein for einen Gulden 13 Kreuzer“ getrunken. Die ganze für die Gemeinde aufregende Geschichte hatte aber ein gutes Ende. Waldbaur schreibt zum Schluss seiner Ausführungen: „Die Gemeinde hatte ihre Wahl nicht zu bereuen. Mehr als viereinhalb Jahrzehnte hat M. Baur sein Amt mit Treue und Gewissenhaftigkeit versehen…“ Aber die Grafschaft hatte trotz des guten Ausgangs genug mit den gemachten Erfahrungen, und so blieb die Pfarrerwahl von 1755 die einzige in Schwaigern. Einige Jahre danach gab es noch einen interessanten Wechsel. Kirchweger war bis 1761 als zweiter Pfarrer in Schwaigern geblieben. Dann bot sich ihm, der von den Schwaigernern enttäuscht worden war, eine günstige Gelegenheit zum Ortswechsel. In Biberach a.d. Riß war ein Pfarrer, zu dem die dortige Gemeinde ein gespanntes Verhältnis hatte: Johann Jakob Brechter. Dieser Brechter hatte eine für einen Theologen etwas ungeordnete, stellenweise auch unklare Vergangenheit, und die beiden Biberacher Pfarrer weigerten sich deshalb, ihn zu ordinieren. Auf Brechters Seite stand aber sein Freund Christoph Martin Wieland, ein seinerzeit bekannter und in der Literaturwelt sehr beachteter Dichter. Über dessen Jugendfreundin Sophie La Roche bestanden Verbindungen nach Bönnigheim, wohin sie sich verheiratet hatte. Bönnigheim war teilweise im Besitz der Grafen von Neipperg. Auf diesem Weg wurde Kirchweger dafür gewonnen, Brechters Amtseinsetzung in Biberach vorzunehmen. Nun, 1761, kam es auf beiderseitigen Wunsch zu einem Tausch: Kirchweger wechselte nach Biberach, Brechter nach Schwaigern. Brechter verheiratete sich 1762 in Schwaigern mit einer Base von Pfarrer Baur. Über Brechters ganzes wechselvolles Leben, seine Tätigkeit in Biberach und in Schwaigern, seine literarischen Arbeiten und seine Verbindungen zur Familie La Roche in Bönnigheim wäre seitenlang zu schreiben. Doch das ist hier nicht unser Thema